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was können wir von den revolutionären obleuten lernen?

mit seinem Buch „Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution“ hatte der junge Berliner Historiker Ralf Hoffrogge Richard Müller und die Revolutionären Obleute von Berlin aus dem historischen Vergessen hervorgeholt.

Dem kleinen Berliner Verlag 'Die Buchmacherei' und ihm ist es auch zu verdanken, daß jetzt nach Jahrzehnten die drei Bände von Richard Müller, dem „Mann hinter der Novemberrevolution“ wieder aufgelegt wurden!

Im Mai 2009 luden wir Ralf Hoffrogge zu einem Jour Fixe nach Hamburg ein. An dem überaus informativen Abend erfuhren wir nicht nur, daß Müller weder für einen sozialen Kapitalismus noch für eine Einparteienherrschaft kämpfte sondern für ein Rätesystem, in dem die Arbeitenden selbst über Produktion und Politik bestimmten. Wir diskutierten, was zu lernen ist von den klandestin organisierten revolutionären Berliner Obleuten, die zwar meist in der USPD organisiert waren aber davon unabhängig ihr politisches Gewicht als Betriebsarbeiter bei der Organisierung in die Waagschale der Streiks und Kämpfe in Berlin warfen, weil sie das Vertrauen und die Aufopferungsbereitschaft ihrer KollegInnen hinter sich hatten.

Das Verdienst der revolutionären Obleute war der Zusammenschluß von KollegInnen, bei denen die Sache im Vordergrund stand, nämlich der wirksame gewerkschaftliche Kampf in den Betrieben, dann ab 1916 der Sturz des Systems. Nicht im Vordergrund stand ihre Gewerkschaftszugehörigkeit im Deutschen Metallarbeiterverband und die Mitgliedschaft in USPD oder Spartacus/KPD. Sie nutzten die Organisation für ihre Organisierung als revolutionäre Obleute, aber unterlagen nicht der Ideologie der Gewerkschaftsführer. Das kann und muß uns heute Vorbild sein, wenn wir fragen: Was können wir von den revolutionären Obleuten lernen? Richard Müller und seine Mitkämpfer organisierten sich, den Bedingungen während des 1. Weltkrieges gemäß klandestin als Widerstandsgruppen, um gegen die Politik der Gewerkschaftsführungen zu arbeiten, die nicht nur eine Burgfriedenspolitik sondern eine Unterstützung von Reichsregierung und Heeresleitung war. Unter heutigen Bedingungen müssen auch wir uns vernetzen, um gegen Sozialpartnerschaft, Co-Management und die Unterstützung von Gewerkschaftsapparaten und -führungen von weltweiten Bundeswehreinsätzen Widerstand leisten zu können.

Nach der gescheiterten Novemberrevolution trat Müller der KPD bei und wurde ihr Gewerkschaftsverantwortlicher. Er wandte sich gegen die abenteuerliche Politik der KPD-Zentrale, den gescheiterten Aufstandsversuch in Mitteldeutschland (Märzaktion 1921). Er ging in die Berliner Metallbetriebe und agitierte gegen die Märzaktion. Er hat dadurch das Blutvergießen vieler Berliner ArbeiterInnen verhindert. „... Jedoch stand Levi nicht allein da. Viele seiner Freunde, einige noch in führender Position, teilten seine Ansichten und vermerkten, Richard Müller, ehemaliger Funktionär der Revolutionären Obleute, sei auf dem Höhepunkt des Aufstandes von einem Berliner Betrieb zum anderen gezogen, um den Metallarbeitern davon abzuraten, sich dem Generalstreik anzuschließen“. (Werner T. Angress: Die Kampfzeit der KPD 1921­1923. S. 208. Droste 1973). Er hat dadurch das Blutvergießen vieler Berliner ArbeiterInnen verhindert. Auf dem III. Weltkongreß wurden Levi und er jedoch der Sabotage bezichtigt. Paul Levi (früherer KP-Vorsitzender), wurde aus der Partei ausgeschlossen, das Ausschlußverfahren gegen Klara Zetkin und sieben andere Parteiführer wurde in eine Verwarnung umgewandelt. Richard Müller wurde 1922 aus der KPD ausgeschlossen.

Die Bücher, auf die sich Hoffrogge in seinem 2008 herausgegebenen Band bezieht, ist die Trilogie „Vom Kaiserreich zur Republik“, die Müller 1924 und 1925 herausgab. Sie waren zwar als Raubdrucke gleich zu Beginn der Studentenbewegung neu aufgelegt worden und dann auch 1973-1974 vom Verlag Olle und Wolter und in so manchen Bücherschrank von Linksradikalen und gewerkschaftlich Interessierten gewandert aber in den Jahrzehnten danach so ziemlich in Vergessenheit geraten. Nur wer sich für die Kämpfe während des 1. Weltkrieges interessierte und während der Novemberrevolution, der stieß immer wieder auf die Rolle der Revolutionären Obleute und eben auf Richard Müller. Seine drei packend erzählten Bände sind Standardwerk und Geheimtip zugleich. Wer sie sich in den letzten Jahrzehnten kaufen wollte, mußte (antiquarisch) dafür 100 bis 150 Euro aufbringen. Die drei Bände sind jetzt von dem kleinen Berliner Verlag Die Buchmacherei in einem Band herausgegeben, für 19,90 Euro! Mit einem Vorwort von Ralf Hoffrogge.

Wer heute was über die Zeit damals lernen will, kauft sich mit dem Buch ein authentisches Werk. Wichtige historische Literatur über die Kämpfe der Arbeiterbewegung erscheinen nicht mehr in größeren Verlagen wie nach 1968 sondern durch mühevollen Einsatz in Kleinstverlagen. Unser Dank geht an die Buchmachererei (Berlin)!


Dieter Wegner
(Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg)

 

"Junge Welt" vom 22.11.2011

buchmachrei gräbt fossil aus

Ein kleiner Berliner Verlag hat Richard Müllers »Geschichte der Novemberrevolution« neu herausgebracht»Wer ist Richard Müller?« fragte mich ein Kollege, der seit Jahrzehnten in der Redaktion der jungen Welt arbeitet. »Wußte ich bis vor ein paar Wochen auch nicht«, antwortete ich. Auf meinem Schreibtisch lag das druckfrische Rezensionsexemplar von Müllers dreibändiger »Geschichte der Novemberrevolution«, das nun dank der Initiative des kleinen linken Berliner Verlages »Die Buchmacherei« erstmals seit fast vierzig Jahren wieder in einer Neuauflage erscheint.

Nun ist »Richard Müller« vielleicht ein Allerweltsname, der sich im Gedächtnis nicht verhakt, aber bemerkenswert ist es schon, daß wir als gelernte und politgeschulte DDR-Bürger nie von ihm gehört hatten. Müller war 1918 Vorsitzender des Vollzugsrates der Arbeiter- und
Soldatenräte von Großberlin und damit immerhin einer der führenden Köpfe der Novemberrevolution. Seit 1914 war er als Leiter der Dreherbranche im Berliner Metallarbeiterverband auf dem linken Flügel der Gewerkschaften federführend an der Organisation eines oppositionellen Netzwerkes gegen den sozialdemokratischen Kriegskurs beteiligt. Im Juni 1916 organisierten diese »Revolutionären Obleute«, wie sie sich nannten, einen eintägigen Generalstreik gegen die Verhaftung Karl Liebknechts. Weitere politische Massenstreiks folgten.

Gemeinsam mit dem Spartakusbund und anderen USPD-Linken bildeten die Obleute das Rückgrat des Aufstands vom 9. November 1918. Müller kämpfte vehement für die volle Machtübernahme durch die Arbeiter- und Soldatenräte und lehnte die von den Mehrheitssozialdemokraten angestrebte Nationalversammlung ab.

Trotz politischer Übereinstimmung in zentralen Fragen sprach sich Müller 1919 noch gegen eine Beteiligung der Revolutionären Obleute an der KPD aus, solange diese nicht ihren »Putschismus« überwunden hätte. 1920 gehörte Müller zusammen mit Ernst Däumig zur linken USPD-Mehrheit, die sich für den Beitritt zur III. Internationale und die Vereinigung mit der KPD aussprachen. Schon 1922 wurde er, wie auch Däumig und der zeitweilige Parteivorsitzende Paul Levi, wieder ausgeschlossen, weil er die »Offensivstrategie«, die zur mißglückten Märzaktion von 1921 geführt hatte, und die sektiererische Linie der »Revolutionären Gewerkschaftsopposition« kritisiert hatte. Müllers drei Bände liegen nun zusammengefaßt in einem Buch wieder vor.
Der Historiker Ralf Hoffrogge, der Verleger und langjährige Aktivist der Berliner Gewerkschafslinken, Jochen Gester, und Rainer Knirsch als Lektor haben auf Grundlage der Originalausgaben des Malik-Verlages von 1924/25 eine behutsam editierte Neuauflage herausgebracht. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung gewährte einen Zuschuß zu den Druckkosten.

Müllers »Geschichte« ist wertvoll in dreifacher Hinsicht: Sie ist der erste umfassende Versuch, die deutsche Novemberrevolution aus marxistischer Sicht darzustellen. Sie ist zugleich ein packender Zeitzeugenbericht, geschrieben von einem ihrer Protagonisten (undähnelt in dieser Hinsicht Trotzkis »Geschichte der russischen Revolution«). Nicht zuletzt aber hat Müller eine reiche Sammlung von Zeitdokumenten und Quellen zusammengetragen, die ein lebendiges Bild dieser Revolution vermitteln. Bedauerlich ist, daß ein Personen- und vielleicht auch Stichwortregister im Anhang fehlt. Auch eine tabellarische Chronik wäre hilfreich gewesen. Die Ausstattung ist insgesamt spartanisch, aber akzeptabel. Es gibt kaum Druckfehler, die Typographie ist gelungen, die Umschlaggestaltung schlicht, aber ansprechend.

Jörn Boewe

 

"Kritische Geschichte" 10-2011

... Geschichtspolitisch und historiographisch halte ich das Buch für bedeutend. So war Müller Metallarbeiter und Vorsitzender des Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte in der deutschen Novemberrevolution. Wir erhalten mit seiner Darstellung der Geschehnisse einen Blick auf die Revolution aus Sicht der Räte und revolutionären Obleute, die in den gängigen Darstellungen nicht oder nur verzerrt widergegeben wird.
Müller ging es politisch um den Nachweis, dass die Eskalation der Konflikte eine gezielte Strategie der Gegenrevolution war: Es gab keinen Bürgerkrieg von links, vielmehr wurde der Bürgerkrieg von rechts geführt. Müller arbeitete dazu recht akribisch mit historischen Belegen. Und so ist seine „Geschichte der Novemberrevolution“ auch eine im akademischen Sinn richtige Geschichtsschreibung, die in der Einleitung von Ralf Hoffrogge lesenswert in die Historiographiegeschichte eingeordnet wird.

Richard Heigl

 

"Barrikade" Dezember 2011

" ... in einer Reihe mit Erhard Lucas "Märzrevolution" 1920"

I.
Richard Müller, der Mann mit dem Allerweltsnamen, war Metallarbeiter (Dreher) und eine der wichtigen Personen der Revolution von 1918. Als Vorsitzender der Revolutionären Obleute der Berliner Metallbetriebe – einer bemerkenswerten Organisation der Metallarbeiterschaft der Berliner Großbetriebe, die die Notwendigkeiten der illegalen Arbeit unter dem Ausnahmezustand des 1. Weltkrieges mit einer strikten basisdemokratischen Entscheidungsstruktur erfolgreich kombinierte – saß er an der zentralen Schaltstelle der großen Streiks während des 1. Weltkrieges (1916, 1917, 1918). Die Revolutionären Obleute, und mit ihnen ihr Sprecher Richard Müller, spielten in der Vorbereitung und Durchführung der Revolution von 1918 ein weitaus wichtigere Rolle als etwa der (sowohl von parteikommunistischer wie konterrevolutionärer Seite) ziemlich überbewertete Spartakusbund um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, wobei sich beide Gruppierungen politisch durchaus nahe standen und der Spartakusbund inhaltlich einiges zur Radikalisierung der Obleute beitrug. Trotzdem lehnten die Obleute den Beitritt zur Silvester 1918 gegründeten KPD wegen der mangelnden Verankerung der neuen Partei in den Betrieben ab und verblieben in der USPD.
Daß die Revolutionäre in Berlin im November 1918 von der Matrosenrevolte in Kiel bei ihrer Planung des bewaffneten Aufstandes überrascht und überrollt wurden, zeigt allerdings, daß Revolutionen doch eher spontan ausbrechen. Trotzdem hatte die Planung etwas für sich, denn sie verlieh der Revolte zumindest in Berlin zeitweise eine Richtung.
Als Vorsitzender des Vollzugsrates der deutschen Arbeiter- und Soldatenräte in den ersten Wochen der Revolution war Richard Müller sogar Oberhaupt des Deutschen Reiches, das sich für kurze Zeit eine »Sozialistische Republik« nannte (womit er der Nachfolger von Kaiser Wilhelm II. und Vorgänger des Reichspräsidenten Friedrich Ebert war) – der einzige revolutionäre Sozialist, der jemals in Deutschland solch eine Position innehatte.
Als wichtiger Rätetheoretiker ist Müller in der zweiten Phase der Revolution in Erscheinung getreten, mit der von ihm und Ernst Däumig herausgegebenen Zeitschrift »Der Arbeiterrat«. Kurzfristig gehörte er der Zentrale der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands (VKPD) an, zu der er Ende 1920 mit der USPD-Linken kam. 1921 war Richard Müller Delegierter auf dem III. Kongreß der Kommunistischen Internationale (KI) und der parallel dazu stattfindenden Gründung der Roten Gewerkschafts-Internationale (RGI). Er wurde aber schon Anfang 1922 aus der Partei ausgeschlossen, da er sich mit Paul Levi und dessen Kritik am Mitteldeutschen Aufstand (der sogenannten Märzaktion 1921) solidarisiert hatte. Allerdings schloß er sich nicht Levis Kommunistischer Arbeitsgemeinschaft (KAG) an.
Müller zog sich einige Jahre aus der aktiven Politik zurück. Ende der 20er Jahre war er dann noch einmal kürzere Zeit im Deutschen Industrie-Verband (DIV) aktiv (zusammen mit Karl Korsch), bis er 1929 offenbar endgültig ins Privatleben entschwand. Er hatte als Bauunternehmer einigen Erfolg und war schon 1930 Millionär geworden. »Seine politischen Ideen blieben dabei irgendwann auf der Strecke. Auch ein Richard Müller war nicht gefeit gegen die korrumpierende Wirkung guter Geschäfte.« schreibt sein Biograph Hofrogge. Während der Nazi-Zeit lebte Müller mit seiner Familie anscheinend unbehelligt in Berlin, aktiven Widerstand hat er offenbar nicht geleistet. Richard Müller starb 1943 in Berlin.
II.
»Er inspirierte viele Fußnoten, jedoch kaum Debatten«, schrieb Richard Müllers Biograph Ralf Hofrogge über dessen dreibändige Geschichte der deutschen Novemberrevolution, die in den Jahren 1924 und 1925 herauskam und jetzt in einem Band neu erschienen ist. Müller hatte die Zeit nach dem Rauswurf aus der KPD genutzt, um die erste umfassende Geschichte der Novemberrevolution vom revolutionären Standpunkt zu schreiben. Er konnte sich dabei auf ein umfangreiches Dokumenten-Archiv stützen, das er seit dem ‘Großen Krieg’ und während der Revolutionszeit angelegt hatte (darunter das einzige noch existierende Exemplar der Protokolle des Vollzugsrates, dessen Akten auf Befehl Gustav Noskes bei der gewaltsamen Auflösung des Vollzugsrates vernichtet worden waren).
Viele dieser Dokumente sind in Richard Müllers Geschichte der Novemberrevolution abgedruckt, z.T. als Faksimile. Allein das macht die Arbeit zu einer unverzichtbaren Quelle für alle, die sich mit der Geschichte der Novemberrevolution befassen. Allerdings sind seine politischen Schlußfolgerungen den bürgerlichen und sozialdemokratischen Republikanern in der Weimarer Republik zu revolutionär und auf jeden Fall zu unangenehm gewesen, zeigten sie doch schäbige Rolle, die die sozialdemokratische Führung mehrheitlich in Kriegs- und Revolutionszeit gespielt hatte. Die stalinistische KPD strickte hingegen an ihrer eigenen Legende und negierte die hervorragende Rolle der Revolutionären Obleute in der Revolution; außerdem hatte man mittlerweile beim Genossen Stalin gelernt, daß ein geschaßter ‘Abweichler’ eine Unperson ist. Dies setzte sich nach dem 2. Weltkrieg in dem verdoppelten deutschen Staat fort. Ralf Hofrogge bringt das auf den Punkt: »In der Regel wurde Müller für seine Faktendarstellung in beiden deutschen Staaten gerne zitiert, seine Interpretationen jedoch ignoriert.« Für die ‘herrschende Meinung’ in der BRD (selbstverständlich auch in der Geschichtswissenschaft) stand Deutschland 1918/19 »zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie« (Walter Tormin), während in der DDR die Novemberrevolution sowieso nur eine bürgerlichen Revolution war (wie Walter Ulbricht höchstselbst im Juni 1958 dekretierte und damit eine Historikerdebatte um den Charakter und die Akteure der Revolution ‘abschloß’). Dabei blieb es im wesentlichen bis zum Ende des SED-Staates in der 2. Novemberrevolution – 1989. In der BRD gab es indes abweichende Interpretationen von der ‘herrschenden Meinung’, die dort nicht mit Knast bestraft wurden – ich nenne nur Fritz Opel und Peter v. Oertzen, die schon in den 1950er und frühen 1960er Jahren die Rolle der Revolutionären Obleute würdigten – aber es waren Einzelkämpfer.
III.
Erst mit der Außerparlamentarischen Opposition (APO) der 1960er Jahre wurde der herrschende Konsens der BRD erschüttert und vermehrt auch eine andere Betrachtung der Novemberrevolution 1918 und der Weimarer Republik ‘salonfähig’. Das führte zur Wiederentdeckung des Rätetheoretikers und des Historikers Richard Müller. Seine Geschichte der Novemberrevolution wurde 1974 vom Westberliner Verlag Olle & Wolter nachgedruckt, eine 2. Auflage erschien 1979 – beide Ausgaben mittlerweile durchaus gesuchte antiquarische Raritäten.
Müllers Geschichte gehört zu den grundlegenden historischen Schriften über die Novemberrevolution 1918 und ihr Scheitern. Sie steht in einer Reihe mit dem Werk von Erhard Lucas zur »Märzrevolution 1920« im Ruhrgebiet. Man kann also dem Verlag garnicht hoch genug anrechnen, dieses wichtige Werk beinahe 90 Jahre nach seinem ersten Erscheinen (und über 30 Jahre nach dem letzten Erscheinen des Reprints) wieder zugänglich gemacht zu haben, noch dazu in einer recht wohlfeilen Ausgabe. Ralf Hofrogges Einleitung zu Neuausgabe, eine gelungene kurze Einführung in Leben und Werk Richard Müllers und die Rezeption seiner Revolutionsgeschichte, rundet die Edition ab.
IV.
Abschließend sei auch noch auf Ralf Hofrogge, Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008, 233 Seiten mit Abb. (Hardcover), Karl Dietz Verlag (€ 19,90)
hingewiesen. Auf dieser Pionierarbeit basiert sein Vorwort, und das Buch, eine politische Biographie Müllers, ist (nicht nur) eine lohnende ergänzende Lektüre zur Revolutionsgeschichte.
V. Es ist Jahresendkonsumrauschfest …

Jonnie Schlichting

 

"Neues Deutschland" vom 27.01.2012

Die Perspektive des radikalen Gewerkschafters

Ohne die Bücher Richard Müllers wäre vermutlich einiges an gewerkschaftlicher Geschichtsschreibung verlorengegangen. Er war Metallarbeiter und einer der wichtigen Protagonisten der Revolution 1919. Er war ein radikaler Gewerkschafter und Rätekommunist. In einem kleinen Berliner Verlag wurde nun Richard Müllers »Eine Geschichte der Novemberrevolution« neu aufgelegt.

Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Diese These lässt sich am Beispiel der historischen Aufarbeitung der Novemberrevolution in Deutschland gut nachweisen. Während der rechte Sozialdemokrat Friedrich Ebert, der die Revolution nach eigenen Bekunden hasste wie die Sünde, noch immer mit dem Ereignis in Verbindung gebracht wird, ist Richard Müller weitgehend vergessen. Dabei war der Metallarbeiter und Vorsitzende der Revolutionären Obleute einer der wichtigsten Träger der Revolution. Für kurze Zeit stand er als Vorsitzender des Berliner Vollzugsrates dem höchsten nachrevolutionären Räteorgan vor. Doch schon bald setzte die rechte SPD-Führung mit Hilfe der monarchistischen Freikorps der Revolution auch blutig ein Ende.

Müller versuchte vergeblich, in der neugegründeten KPD eine revolutionäre Gewerkschaftspolitik umzusetzen und wurde schon 1922 im Zuge von Fraktionskämpfen ausgeschlossen. Nachdem er sich aus der öffentlichen Politik zurückzog, veröffentliche er zwischen 1924 und 1925 seine dreibändige Geschichte der Revolution unter dem Titel »Vom Kaiserreich zur Republik«. In den 1970er Jahren war sie von einem kleinen Verlag neu aufgelegt worden. Auf dieser Grundlage hatte der linke Historiker Bernt Engelmann damals den zweiten Band seiner vielgelesenen Anti-Geschichtsbücher über die Entstehung der Weimarer Republik verfasst. Danach war Richard Müller wieder vergessen, bis ihn der Berliner Historiker Ralf Hoffrogge mit einer Biografie wieder entdeckte. Bei einer Diskussionsveranstaltung über dieses Buch entstand auch die Idee, Müllers Geschichtsbücher wieder aufzulegen. Die Berliner Buchmacherei hat diese Arbeit mit Bravour erledigt. In einen Band zusammengefasst und mit einem ansprechenden Einband versehen, ist dieses einzigartige Geschichtsbuch zu einem günstigen Preis wieder zugänglich.

Neben der spannend zu lesenden Geschichtsarbeit Müllers, die den Vergleich mit Trotzkis im Exil geschriebenen »Geschichte der Oktoberrevolution« nicht scheuen muss, sind es die zahlreich in dem Buch enthaltenen Dokumente, die das Buch zu einer wahren Fundgrube machen Viele dieser Aufzeichnungen aus internen Diskussionen von SPD, USPD oder Gewerkschaften wären heute nicht mehr zugänglich.

Man braucht nur die Stellungnahme aus dem gewerkschaftliches »Korrespondent des Buchdruckerbandes« zu Beginn des 1. Weltkrieges zu lesen und sieht, dass hier Töne laut wurden, die nicht ganz 20 Jahre später in den NS-Staat führten. »Die Heldentaten unserer großartigen Wehr zu Land und zur See löste eine überwältigende Massenempfindung aus, die die beste Gewähr für den endgültigen Sieg bildet«, heißt es dort. Neben solchen militaristischen Tönen sind in dem Buch auch die Zeugnisse der Antikriegsopposition dokumentiert. Ralf Hoffrogge weist im Vorwort darauf hin, dass die wesentlich von Müller mitformulierten Rätekonzepte der Revolutionären Obleute in den späten 60er und frühen 70er Jahren Einfluss auf die Mitbestimmungsdebatte des DGB hatten. Es wäre zu wünschen, dass auch die Neuauflage von Müllers Monumentalwerk die aktuellen Debatten für linke Perspektiven anregen könnte. Vor allem aber sollte sie helfen, das offizielle Bild zur Novemberrevolution zu korrigieren. Während in fast jeder Stadt eine Straße an Friedrich Ebert erinnert, sucht man den Namen des radikalen Gewerkschafters und Räteaktivisten Richard Müller bisher vergeblich.

Peter Nowak

 

"Sozialismus" 2-2012

Für „die aktuellen Debatte um historische Perspektiven“ unverzichtbar

Vor fast neun Jahrzehnten schrieb Richard Müller, führender Kopf der Revolutionären Obleute im Deutschen Metallarbeiter-Verband, deren Sprecher auf dem linken Flügel der USPD, Vorsitzender des Vollzugsrates der Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte 1918/19 und 1922 als kommunistischer Gewerkschaftsfunktionär aus der KPD ausgeschlossen, jene drei Bücher, die nun, erstmalig in einem Band vereinigt, nachgedruckt vorliegen. Für die Neuausgabe wurden Müllers Bände neu gesetzt und ihre Seitenzahlen fortgeschrieben, was für Vergleiche und Zitierungen beachtet werden muss.
Richard Müller verhehlte zwar nicht seine Zeitzeugenschaft als Führungsgestalt in der deutschen Revolution, aber er schrieb keine Memoiren, sondern gestützt auf die von ihm gesammelten Dokumente der Rätebewegung eine kompakte, gründlich dokumentierte Geschichte der Revolution von 1918/19 einschließlich ihrer Vorgeschichte, die er 1924/25 im Malik-Verlag bzw. in dem von ihm mitbegründeten Phöbus-Verlag publizierte. Müller schrieb mit dem Anspruch, „einen Beitrag zur Selbstreflektion der revolutionären Bewegung“ zu leisten, „die er noch nicht als abgeschlossen betrachtete“ (Einleitung der Hrsg., S. 17).
Unter der Überschrift „Ein revolutionäres Vermächtnis – Richard Müller und seine Geschichte der Novemberrevolution“ stellt Ralf Hoffrogge dem Nachdruck des Müllerschen Werkes eine Einleitung voran (S. 11-25), in der er die  Biographie Müllers skizziert und die Wirkungsgeschichte seiner Schriften erörtert. (1) Hoffrogge hebt zu recht hervor, dass Müllers Revolutionsgeschichte zwar bei Historikern über die Jahrzehnte gut bekannt blieb und – meist als Fakten-Steinbruch – genutzt wurde, dass sie aber in den Strömungen der Arbeiterbewegung verdrängt worden ist. Der nachrevolutionären und staatserhaltenden Sozialdemokratie musste der bekennende Revolutionär als linker Extremist erscheinen. In das Bild der parteikommunistischen Historiographie, die allein auf eine von Spartakus begründete Traditionslinie setzte, passte der zudem aus der KPD ausgeschlossene Revolutionshistoriker ebenso wenig.
Die mehr oder weniger direkte Rezeption der Revolutionsdarstellung Müllers durch Arthur Rosenberg und Ossip K. Flechtheim, auch deren Weiterwirkung in Arbeiten von Fritz Opel, von Eberhard Kolb und insbesondere von Peter von Oertzen kennzeichnet Hoffrogge zutreffend als „Minderheitenstrang in der westdeutschen Geschichtswissenschaft“ (S. 23). Die Mehrheitsströmung habe in der Interpretation der Revolution 1918/19 an dem „konstruierten Gegensatzpaar Demokratie-Kommunismus“ (S. 22) festgehalten und nur bürgerliche und sozialdemokratische Stimmen zur Kenntnis genommen. Desinteresse an historischen Alternativen und an den Kämpfen um den sozialen Charakter der Weimarer Republik bestimmte auch den Inhalt der Schulbücher und die Erinnerungskultur.
Im Gegensatz zum Mainstream der akademischen Historiographie interessierten sich Gewerkschaften und die Studentenbewegung der 60-er Jahre sehr wohl für Müllers Arbeiten über eine Rätedemokratie, die sie der rückständigen und dringend reformbedürftigen Gesetzgebung der Bundesrepublik auf dem Gebiete der wirtschaftlichen und politischen Mitbestimmung gegenüberstellten. Diese Bewegung rief Ende der 60-er und Anfang der 70-er Jahre eine größere Anzahl von Dokumentationen zur Rätefrage in der Novemberrevolution hervor, in denen auch Positionen Richard Müllers reflektiert wurden. Müllers frühe Trilogie über die Revolution 1918/19 wurde in fotomechanischen „Raubdrucken“ von Hand zu Hand gereicht, bis 1973/74 die bisher letzte Neuauflage in der „Kritischen Bibliothek der Arbeiterbewegung“ erschien.
Die Ausgaben von 1924/25 und 1973/74 sind heute nur noch in wenigen Exemplaren auf dem Antiquariatsmarkt anzutreffen. Seltenheit und Nachfrage trieben deren Preis in extreme Höhen. Der hier anzuzeigende Nachdruck schließt also eine empfindliche Lücke im normal zugänglichen Bestand an marxistischer Literatur über das revolutionäre Geschehen während des Ersten Weltkriegs und der ihm folgenden Revolution in Deutschland. Damit gelingt das Vorhaben der Herausgeber, „Müllers Thesen vom unfreiwilligen Status eines Geheimtipps“ zu lösen und „sie in den allgemein zugänglichen Fundus historischer Kampferfahrungen“ zurück zu bringen (S. 25). Der Satz zielt auf die politische Aktualität der „alten“ Schriften. In der Tat bietet der Band hinreichend Gesprächsstoff für geschichtsbewusste Debatten über die Zusammenhänge zwischen Sozialismus und Demokratie, über Wirtschaftsdemokratie und über das Verhältnis von repräsentativer parlamentarischer und Basisdemokratie. Aber auch die Fachhistoriker sind herausgefordert, die Renaissance des Müllerschen Werkes aufzugreifen, sich nicht nur des in ihm ausgebreiteten reichen Faktenmaterials zu bedienen, das ohnehin indessen noch umfassender und genauer, als es Müller möglich war, dokumentiert und dargestellt wurde, sondern – natürlich nicht unkritisch – den methodologischen Ansatz zu prüfen, wenn es um weitere Arbeiten über die deutsche Revolutionsgeschichte und ihre bis in Gegenwart und Zukunft fortwirkenden Implikationen geht.
Der Band mit Richard Müllers revolutionsgeschichtlichen Abhandlungen und Dokumentenanhängen gehört nicht nur in den Grundbestand der Bibliotheken, sondern auch in das Handregal des Historikers und aller historisch Interessierten, besonders jener, die sich an der aktuellen Debatte über historische Alternativen beteiligen wollen. Ralf Hoffrogge ist zu beglückwünschen, dass es ihm nach seiner verdienstvollen Richard-Müller-Biographie gelang, die notwendige Unterstützung zu finden, nun auch das Hauptwerk seines Protagonisten wiederzubeleben.

Ingo Materna

Müllers Biographie sowie die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte seiner drei Bücher sind ausführlicher behandelt von Ralf Hoffrogge: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution (=Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus, Bd. VII), Karl Dietz Verlag, Berlin 2008, S. 171-197.

 

H-Soz-u-Kult April 2012

"... eine Fülle von sehr bewegenden Darstellungen entscheidender Stationen der Revolutionsgeschichte"


Eine der wirkmächtigsten zeitgenössischen Darstellungen zur Geschichte der Revolution von 1918/19, welche die Forschung zur Rätebewegung seit den 1950er-Jahren beeinflusst hat, ist neben Arthur Rosenbergs Geschichte der Weimarer Republik zweifelsohne die von 1924 bis 1925 veröffentlichte Trilogie Richard Müllers unter dem Obertitel: "Vom Kaiserreich zur Republik".[1] Müller verfasste sein Geschichtswerk aus der Perspektive des unmittelbar an der Basis in den Betrieben und den Räteorganisationen aktiven Organisators der revolutionären Bewegung. Seine eigene Biografie steht paradigmatisch für jenen Teil der deutschen Arbeiterbewegung, der in den Revolutionsjahren für kurze Zeit ins politische Feld eingetreten war, nach dem Scheitern der Rätebewegung, der Auflösung der USPD und den Säuberungen innerhalb der KPD jedoch bald wieder von der politischen Bühne verschwand. Seine Geschichte der Revolution spiegelt daher auch Hoffnungen und Bestrebungen wider, die nicht in der Gegenüberstellung von parlamentarischer Demokratie oder bolschewistischer Einparteiendiktatur aufgeht.[2]

Der Berliner Historiker Ralf Hoffrogge, dem das Verdienst gebührt, bereits vor vier Jahren die Biografie Müllers herausgearbeitet zu haben [3], hat nun zusammen mit Jochen Gester und Rainer Knirsch sowie mithilfe eines kleinen Berliner Verlages die drei Bücher Müllers in einem Band neu herausgegeben und mit einer ausführlichen Einleitung versehen. In dieser rekapituliert Hoffrogge noch einmal die Stationen der politischen Tätigkeit Müllers von seiner führenden Rolle unter den "revolutionären Obleuten" in den Massenstreiks während des Ersten Weltkrieges über seine Tätigkeit als Vorsitzender des Berliner Vollzugsrates der Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte und seinem Wirken als Rätetheoretiker und KPD-Gewerkschaftsbeauftragter bis hin zu seiner kurzfristigen Rolle in der kleinen Linksgewerkschaft "Deutscher Industrieverband" nach seinem Ausschluss aus der KPD 1922. Anschließend hebt er die Rezeption Müllers während des Paradigmenwechsels in der bundesrepublikanischen Forschung in den 1950er- und 1960er-Jahren hervor, welche den scharfen Gegensatz von Demokratie und Rätebewegung endgültig aufgab [4], beleuchtet aber auch den Einfluss von Müllers Geschichtswerk auf die umstrittene populärwissenschaftliche Darstellung von Sebastian Haffner [5] und den Rückbezug auf Müller in linksgewerkschaftlichen Debatten der 1960er- und 1970er-Jahren. Hoffrogge beschreibt das Paradox, dass Müllers Geschichte der Revolution gleichzeitig ein "Standardwerk" und ein "Geheimtipp" gewesen sei. Die Studentenbewegung habe bewirkt, dass diese in den 1970er- Jahren bei dem Berliner Verlag Olle&  Wolter neu aufgelegt wurde, jedoch seit längerer Zeit vergriffen sei.

Die Neuauflage orientiert sich an der letzten Auflage des Originals, besitzt aufgrund der einbändigen Herausgabe jedoch veränderte Seitenzahlen. Eine Besonderheit von Müllers Werk besteht in der ausgiebigen Verwendung von teilweise seltenen Originaldokumenten, die
unter anderem auf seine akribische Archivierungsarbeit während seiner Tätigkeit als Vorsitzender des Berliner Vollzugsrates zurückgeht. Jedem der drei Teile folgt daher ein längerer dokumentarischer Anhang aus Flugblättern, Protokollen und Ausschnitten aus Zeitungsartikeln, die das Buch zugleich zu einer wertvollen Dokumentensammlung machen.

Der erste Teil behandelt die Entwicklung vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis zum Vorabend der Novemberrevolution. Müller legt in einem Vorwort dar, dass er keinesfalls beabsichtigt, eine erschöpfende wissenschaftliche Darstellung zu liefern. Den größten Raum nehmen die Vorgänge in Berlin und vor allem die Entwicklung in der Arbeiterschaft ein. Er betont dabei die Bedeutung der sozialen und psychologischen Folgen des Krieges, die im Zusammenspiel mit der Burgfriedenspolitik der Gewerkschaftsinstanzen und des sozialdemokratischen Parteiapparates schließlich dazu führten, dass ein kleiner Kreis konspirativ agierender oppositioneller Vertrauensleute, die Obleute, einen immer breiteren Anhang in der Arbeiterschaft gewinnen konnte. Er beschreibt auch die Differenzen in der Strategie zwischen den Obleuten und dem Spartakusbund, vor allem mit Karl Liebknecht, dessen Taktik der sich bis zur Revolution steigernden Straßenagitation die Obleute als "revolutionäre Gymnastik" verspotteten. Sie setzten hingegen auf sich ausweitende große Massenaktionen wie die Streiks vom April 1917 und Januar 1918, die Müller, trotz des Scheiterns der aufgestellten Forderungen, als Erfolge verbucht.

Der zweite Teil beginnt mit dem Umsturz vom 9. November in Berlin, an dessen Gelingen die Vorbereitungen der Obleute entscheidenden Anteil hatten, und endet mit dem Ersten Reichsrätekongress im Dezember 1918, der die Entwicklung zur Nationalversammlung festschrieb. Müller beschreibt ausgiebig das Verhältnis zwischen Berliner Vollzugsrat, dessen Vorsitz er in dieser Zeit führte, und dem Rat der Volksbeauftragten. Der Vollzugsrat, der als Kontrollorgan der Räte gegenüber der neuen Regierung gedacht war, sah sich bald heftigen Angriffen ausgesetzt, blieb jedoch auch aufgrund interner Fraktionskämpfe zwischen SPD- und USPD-Vertretern gelähmt, so dass er den Restaurationsbestrebungen durch das Bündnis aus SPD-Volksbeauftragten und kaiserlichem Militär- und Verwaltungsapparat außer Willenskundgebungen nichts entgegen zu setzen hatte.

Der dritte Teil "Der Bürgerkrieg in Deutschland" schließt das opulente Werk mit der Schilderung der militärischen Auseinandersetzungen und der Streikbewegungen vom Anfang bis zum Frühjahr des Jahres 1919 ab. Müllers zentrale These besteht darin, dass die SPD-Führung, durch eine revolutionäre Massenbewegung an die Macht getragen, die Grundlage dieser Macht in der Rätebewegung verleugnet habe und sich nicht nur weitergehenden Bestrebungen nach einer Sozialisierung und einer Heeresreform entgegenstellte, sondern sich dadurch auch auf die Macht der gegenrevolutionären Kräfte in Militär- und Staatsapparat stützen musste. Getrieben von ihren militärischen Bündnispartnern, sei sie auch vor dem Einsatz militärischer Gewaltmittel nicht zurückgeschreckt, wodurch sich die Konflikte erst zum Bürgerkrieg zugespitzt hätten. Auf der anderen Seite übt Müller scharfe Kritik an der revolutionären linken Opposition, die durch überstürzte, einer Radikalisierung der Rätebewegung vorauseilenden Aktionen die vorhandenen Möglichkeiten der Revolutionsjahre verspielt habe. Er sieht daher weder im Januaraufstand noch in den diversen Räterepubliken die entscheidenden Kämpfe um die Weiterführung der Revolution, sondern in einer aus der wirtschaftlichen Not und der Enttäuschung breiter Massen entstandenen Streikwelle im Frühjahr 1919. Die kam jedoch aufgrund der Schwäche der revolutionären Linken nach den militärischen Niederlagen und ihrer organisatorischen und regionalen Zersplitterung, nur versprengt zur Entfaltung und scheiterte in erneuten zum Teil sehr blutigen militärischen Auseinandersetzungen weitgehend.

Müllers Werk ist eine beeindruckende Darstellung aus der Binnensicht. Wer seine durchaus kontrovers zu beurteilenden Thesen nicht teilt, wird dennoch eine Fülle von sehr bewegenden Darstellungen entscheidender Stationen der Revolutionsgeschichte vorfinden. Vor allem aber liefert er einen guten Einblick in die organisatorische Struktur und mentale Verfassung der "größten Massenbewegung der deutschen Geschichte"[6] aus der Perspektive eines ihrer entscheidenden Akteure. Trotz der aus fachhistorischer Sicht vorhandenen Schwächen des Buches, wie einer teilweisen Glättung der eigenen Rolle Müllers in den Ereignissen, bleibt der Hoffnung der Herausgeber zuzustimmen, die Neuausgabe möge zu einer Belebung der seit den 1980er-Jahren zurückgegangenen Debatten über die Revolution beitragen. So betont Müller beispielsweise die wichtige Rolle psychologischer und sozialer Brüche in Weltkrieg und Revolution, deren Herausarbeitung eine Aufgabe zukünftiger Geschichtswissenschaft sei. Die von ihm selbst vor der Vernichtung bewahrten Protokolle der Vollversammlungen der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte und des Vollzugsrates sind seit einigen Jahren in einer ausführlichen Edition leicht zugänglich. Sie bieten ein reichhaltiges Material für eine erst in den Anfängen stehende mentalitäts- und alltagsgeschichtliche Forschung zur Revolution von 1918/19.[7]

Dietmar Lange
( Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin)


Anmerkungen:
[1] Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik,
Frankfurt am Main 1955. Im Original: "Entstehung der Deutschen Republik
1871-1918" und "Geschichte der Deutschen Republik", veröffentlicht 1928
und 1935.
[2] Diese Gegenüberstellung bildete das Forschungsparadigma in der
westdeutschen Geschichtsschreibung zur Revolution bis in die
1950er-Jahre hinein. Vgl. dazu am prononciertesten Karl Dietrich
Erdmann, Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der
Wissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Nr. 3 (1955), S.
1-19.
[3] Ralf Hoffrogge, Richard Müller - Der Mann hinter der
Novemberrevolution, Berlin 2008.
[4] Für einen Überblick über die westdeutsche Forschungsdebatte siehe
Eberhard Kolb, Revolutionsbilder: 1918/19 im zeitgenössischen
Bewusstsein und in der historischen Forschung, Heidelberg 1993.
Insbesondere Peter von Oertzen stützt sich intensiv auf Müllers Werk.
Ders., Betriebsräte in der Novemberrevolution, 2. Auflage, Berlin/Bonn
1976.
[5] Sebastian Haffner, Die verratene Revolution - Deutschland 1918/19,
Hamburg 1969. Kritisiert wurde insbesondere seine These des "Verrats"
der SPD-Führung an der eigentlich sozialdemokratischen Revolution.
Hierbei stützt sich Haffner in weiten Teilen, allerdings
unausgesprochen, auch auf die Thesen Richard Müllers.
[6] Kolb, Revolutionsbilder, S. 30.
[7] Gerhard Engel, Bärbel Holz, Ingo Materna (Hrsg.), Groß-Berliner
Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/19. Dokumente der
Vollversammlung und des Vollzugsrats, 3 Bde., Berlin 1993-2002.


Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Dirk van Laak<dvanlaak@t-online.de>

URL zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-2-021>

 

"Ossietzky" Nr. 18 - 2012

Fundgrube für Historiker

Die deutsche Novemberrevolution von 1918 gilt als gut erforscht; ihre Hauptakteure sind bekannt: Rosa Luxemburg als theoretische Wegbegleiterin der Aufständischen, Karl Liebknecht als derjenige, der am 9. November die „Freie Sozialistische Republik Deutschland“ ausrief, Gustav Noske als „Bluthund“ und militärischer Totengräber der Revolution und Friedrich Ebert als Reichskanzler und späterer Reichspräsident, der dann die revolutionären Wirren in geordnete, bürgerliche Bahnen lenkte ...
Der Metallarbeiter Richard Müller ist weniger bekannt, obwohl er als Sprecher der „Revolutionären Obleute“ und Vorsitzender des „Berliner Arbeiter- und Soldatenrates“ zu den wichtigsten Akteuren des Umbruchs gehörte. Müller gilt als einer der Begründer des Rätekommunismus. Sein zwischen 1924 und 1925 erschienenes dreibändiges Werk zur Geschichte der deutschen Novemberrevolution fand allerdings wenig Beachtung. Die Rechte verübelte Müller die ungeschminkte Darstellung des konterrevolutionären Terrors und der schändlichen Rolle der SPD. Der Linken war er wegen seiner gelegentlichen Kritik an Karl Liebknecht suspekt.
Die drei längst vergriffenen Bände „Vom Kaiserreich zur Republik“, „Die Novemberrevolution“ und „Der Bürgerkrieg in Deutschland“ wurden jetzt in einer kommentierten Ausgabe neu herausgegeben, dabei zu einem Sammelband zusammengefaßt. Das Buch ist immer noch eine Fundgrube für Historiker, nicht nur, weil Müller am revolutionären Geschehen unmittelbar beteiligt war und über Informationen verfügte, die an anderer Stelle nie schriftlich niedergelegt wurden. Müllers Ausführungen sind auch zahlreiche Nachdrucke von Dokumenten und Zeitungsartikeln beigefügt, die sonst nirgendwo mehr vorhanden sind.
Müller untersucht detailliert die sozialen Ursachen der Revolution: der entsetzliche Hunger der Kriegsjahre, Anstieg der Lebenshaltungskosten, rücksichtslose Ausbeutung in den Betrieben, während eine Handvoll Kriegsgewinnler märchenhafte Gewinne einfuhren. Der Autor schildert, wie nach dem Verrat der SPD linke Gewerkschaftsaktivisten nach und nach die Burgfriedenspolitik durchbrachen und sich schließlich an die Spitze einer allgemeinen Unmutsbewegung setzten. Das alte Regime fiel daraufhin wie ein Kartenhaus zusammen.
Entgegen der von bürgerlichen Historikern verklärend dargestellten damaligen Rolle der SPD als Garant der Demokratie gegen Putschversuche  von rechts und links schildert Müller die Kumpanei der sozialdemokratischen Parteiführung mit kaisertreuen Generälen, rechtsradikalen Freikorps und antisemitischen Geheimbünden. Die wenigen Versuche einer gewaltsamen Machtergreifung von links waren entweder auf die Tätigkeit bezahlter Provokateure zurückzuführen oder aber Reaktionen auf konterrevolutionäre Aktivitäten. Ausführlich schildert Müller den „Spartakusaufstand“ der KPD von Januar 1919 in Berlin. Liebknecht ging gezielten Fehlinformationen auf den Leim, als er eine Protestwelle gegen die Regierung zur Machtergreifung nutzen wollte. Die Erhebung war durch regierungstreue Einheiten bereits niedergeschlagen, als rechtsradikale Freikorps das Blutbad anrichteten, dem auch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Opfer fielen.

Gerd Bedszent

 

"Das Blättchen" Nr. 18 - 2012

" ... bis heute nichts an Aktualität verloren"

Hier soll von einem Werk die Rede sein, das bereits vor 90 Jahren verfasst wurde, bis heute indes nichts an Aktualität verloren hat: „Vom Kaiserreich zur Republik“, „Die Novemberrevolution“ und „Der Bürgerkrieg in Deutschland“, sind die drei Bände überschrieben, die 1924/25 erschienen waren. 1973/74 wurden sie vom Verlag Olle & Wolter nachgedruckt. Inzwischen sind diese Exemplare nur noch vereinzelt in Antiquariaten für 100 bis 150 Euro zu finden. Richard Müllers Revolutionsgeschichte war zwischen der einerseits SPD- und andererseits KPD-geprägten Geschichtsschreibung in der Versenkung verschwunden und fast verloren gegangen, dabei ist sie im Grunde ein wieder zu entdeckendes Standardwerk. Es ergänzt und korrigiert einiges in den offiziösen Darstellungen der beiden Arbeiterparteien und schärft damit nicht nur den Blick auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart. Darum haben Ralf Hoffrogge, Historiker und Autor der Müller-Biographie „Der Mann hinter der Novemberrevolution“ (Karl Dietz Verlag, 2008), und Jochen Gester, verantwortlich für das Medienportal Die Buchmacherei (www.DieBuchmacherei.de), sowie der Autor dieser Zeilen als Lektor, Müllers historische Trilogie in einem Band neu herausgebracht.
Wer war dieser Richard Müller? Zwischen 1916 und 1921 zählte der Gewerkschafter zu den einflussreichsten Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaft war seine Heimat, sein Freundeskreis, seine politische Identität. Im Deutschen Metallarbeiter-Verband, seinerzeit die größte Gewerkschaft der Welt, galt er als der Anführer des linken Flügels. Er hatte die großen Berliner Massenstreiks der Jahre 1916 bis 1918 illegal organisiert. In der Revolutionsregierung 1918 war Müller Vorsitzender des „Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte“, des ranghöchsten Räteorgans, und verteidigte die politischen Ideale einer sozialistischen Gewerkschaftsbewegung. Die „Revolutionären Obleute“ der Betriebe waren ein Ergebnis seines Organisationstalents, ein Musterbeispiel für die Verbindung von unter den Bedingungen des Krieges notwendiger Geheimhaltung und Masseneinfluss. Ihr politischer Kurs war trotz aller Radikalität pragmatisch. Sie handelten diszipliniert und geschlossen, dabei gaben Obleute ihre Unabhängigkeit nie auf.
Richard Müllers „Novemberrevolution“ ist gewissermaßen Geschichte „von unten“. Müller hat sie als Zeitzeuge verfasst, er schildert authentisch die Rolle von SPD, Spartakusbund, USPD und KPD in jenen revolutionären Zeiten. Müller erzählt keine Anekdoten, sondern unterbreitet Einschätzungen und Dokumente, die es den Lesern erlauben, sich ein eigenes Bild von den geschilderten Vorgängen zu machen. Dabei stützt er sich auf einen großen Fundus von Originalquellen, darunter vielfach zum ersten Mal veröffentlichte Aufrufe und Flugblätter, vor allem auf die einzig erhaltenen kompletten Abschriften der Protokolle des Berliner „Vollzugsrates“, die nur durch Richard Müllers Einsatz für die Nachwelt gerettet wurden.
Deutschland 1918/19: Räteverfassung? Wirtschaftliche Demokratie auf Basis von Betriebsräten, in der die Arbeitenden selbst über Produktion und Politik entscheiden? Alles schien möglich. Die Krise heute eröffnet eine neue gewerkschaftliche Debatte um diese Alternativen: Ob der Räte-Gedanke die Entwicklung der Mitbestimmung zur Selbstbestimmung befruchten kann, stellt sich als Frage nicht nur Betriebs-, Personal- und Aufsichtsräten. Es ist ein aktuelles gesellschaftliches Thema, behandelt zum Beispiel in Manfred Sohns Buch „Der dritte Anlauf. Alle Macht den Räten“ (PapyRossa Verlag, Köln 2012), oder in „Jenseits des Kapitalismus – Grundrisse einer libertären und solidarischen Gesellschaft“ von Gerhard Stange (in „Die Aktion“ Nr. 219, Edition Nautilus, 2011).
Was also sagt uns Richard Müllers „Geschichte der Novemberrevolution“, eine marxistische Analyse der Revolution 1918/19 gegen Krieg und Kaiser, für eine sozialistische Republik, die durch einen Bürgerkrieg von rechts letztlich zum Faschismus führte? Mit historischen Belegen weist Müller akribisch nach, dass es keinen Bürgerkrieg von links gab, sondern dass dieser Bürgerkrieg samt Terror und Mord von rechts geführt wurde, womit sich über 90 Jahre später ein aktueller Bezug zum faschistischen Terror bei staatlicher „Blindheit“ herstellt, der vom Münchener Oktoberfest 1980 bis zu den neonazistischen Anschlägen, Raubüberfällen und Morden in den letzten Jahren reicht.
Nach dem Erscheinen der Neuausgabe im Oktober 2011 war die erste Auflage des Müllerschen Werkes von bescheidenen 200 Exemplaren bereits nach wenigen Tagen vergriffen. Vorsichtig wurde es in Hunderter-Schritten nachgedruckt, und im März 2012 erschien nun die um eine Chronologie und ein Personenregister erweitere 5. Auflage in einem Band; spannend zu lesen wie ein Krimi.

Rainer Knirsch

 

"Grundrisse Nr. 43 / 2012

" als der rätegedanke in deutschland seine ersten wurzeln schlug"

In den frühen zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderst  im Malik-Verlag (1) bzw. im Eigenverlag erschienen, in den siebziger Jahren von dem kleinen westberliner  Verlag  Olle&Wolter wiederverlegt, nahm sich jetzt die kleine “Buchmacherei” in Berlin dieses vergessenen historischen Textes an und brachte ihn als Neuauflage im Oktober 2011 wieder auf den Büchermarkt. Damit ist eines der wichtigsten Werke zur deutschen Novemberrevolution 1918, wenn auch nur in bescheidener Auflage, wieder  erhältlich. Wichtig vor allem deshalb, weil es von dem “Mann hinter der Novemberrevolution” (2) geschrieben worden ist, was auch den besonderen Reiz dieses Buches ausmacht. Der folgende Beitrag ist keine herkömmliche Buchbesprechung; aber er beabsichtigt lautstark die Werbetrommel für das Buch zu schlagen. Es wurde von Richard Müller so geschrieben, als ob er zu diesem Prozess keine persönliche und damit enge Bindung gehabt  hätte, obwohl er tatsächlich davon nicht zu trennen ist. Daher soll im folgenden über “Eine Geschichte der Novemberrevolution” geschrieben werden, indem über Richard Müller und sein nächstes politisches Umfeld geschrieben wird.

Wer war nun dieser “Mann hinter der Novemberrevolution”, der ein mehr als 700 Seiten umfassendes Opus darüber hinterlassen hat?  Richard Müller war von 1920 bis 1922 Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands.  Das hat aber nicht dazu gereicht, dass er in das Biographische Handbuch “Deutsche Kommunisten” von Hermann Weber und Andreas Herbst (3) Aufnahme gefunden hätte. In diesem Handbuch sind die Lebensläufe von 1.400 führenden KommunistInnen gesammelt. Richard Müller sucht man darunter vergebens. Doch bei einem der 1.400, die Aufnahme gefunden haben in die eindrucksvolle Sammlung, finden wirgerade einmal in einem Klammerausdruck den Namen Richard Müller und erfahren auch, dass er zu den Revolutionären Obleuten gehörte (4).
Die Revolutionären Obleute entstanden  vor allem in Berlin als Teil der Opposition im Deutschen Metallarbeiterverband (DMV) gegen die Burgfriedenspolitik der Gewerkschaftsführung während des 1. Weltkrieges (1914-1918) aus den Betrieben und Gewerkschaftsversammlungen heraus. Ab 1916 konnte der Vorstand des DMV die Opposition innerhalb der Gewerkschaft nicht mehr  ignorieren und unterdrücken, denn auch außerhalb Berlins entstanden Oppositionsgruppen. Nach der Bildung der USPD 1917 (5) schlossen sich die Revolutionären Obleute der USPD an, ohne jedoch ihre politische Selbständigkeit aufzugeben. Sie bezogen ihre Stärke aus den Betriebsbelegschaften, aus denen sie hervorgegangen waren, in ihnen waren sie verankert, ihnen alleine waren sie verpflichtet. Durch diese Verankerung in der Basis der ArbeiterInnenklasse gelang es den Obleuten in ihren Aktionen und Losungen die Stimmung und Wünsche der Massen im Betrieb wiederzugeben. Aus dieser engen Beziehung mit den Betriebsbelegschaften entstanden im Verlauf der revolutionären Aueinandersetzung immer wieder Differenzen mit der USPD und  der Spartakusgruppe um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die in geringerem Maße mit der ArbeiterInnenschaft verbunden  waren als die Obleute.
Ausgegangen war die Obleutebewegung von 50 bis 80 Vertrauensleuten von Berliner Großbetrieben. Um diesen Kern bildete sich ein loser Zusammenschluss von Vertrauensleuten aus weiteren Betrieben. In der Zeit um die Novemberrevolution umfasste die Obleutebewegung einige tausend Vertrauensleute. Richard Müller war einer der zentralen Sprecher der Obleute und er beschreibt den Organisationsaufbau auf Seite 134 seines Buches: “Das Gebilde der Revolutionären Obleute, wie es am Vorabend der Revolution bestand, ist nicht als fertiges Produkt dem Geist irgendeines klugen Führers entsprungen, sondern entwickelte sich während des Krieges aus den sozialen, politischen und militärischen Verhältnissen heraus. Es entstand auf einer organisatorischen Basis, die sich an die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung anlehnte.”
In der  Politik der Revolutionären Obleute verwirklichte sich die vorhandene Spontanität der ArbeiterInnenschaft sowohl in einer eigenen Organisation, wie in der selbstorganisierten und selbstbestimmten betrieblichen und politischen Aktion. Hinzu kam, dass die Obleutebewegung, obwohl die meisten der Obleute der USPD angehörten, ohne den leitenden Einfluss einer Partei bestand.  Adolf Brock beschreibt in dem Buch “Die Betriebsräte in der Weimarer Republik” (6) die Obleutebewegung:
“Die Basis des Zusammenschlusses der Obleute oder der selbstgesetzte Organisationsrahmen war die Betriebsbelegschaft, die durch den Arbeits- und Produktionszusammenhang bestimmt war. Die gewählten Vertreter der Arbeiter waren so immer ihrer Basis präsent. Durch diesen dauernden Kontakt mit den Kollegen konnten die Entfremdungserscheinungen und Verselbständigungstendenzen, denen die Partei- und Gewerkschaftsführungen weithin erlegen waren, erst gar nicht aufkommen. Gestützt auf das Vertrauen ihrer Wähler, gleichzeitig bereit, jederzeit abgewählt zu werden, immer ausgehend von der Praxis und mit den Arbeitern aufgrund ihrer Funktion als Vorkämpfer und Sprecher bei der Durchsetzung der gewerkschaftlichen und politischen Forderungen der Kollegen, stellten die Revolutionären Obleute als Organe demokratischer Willensbildung zugleich die geeignete Plattform der Opposition gegen Krieg und Burgfrieden und für die Durchsetzung des Sozialismus dar.
Die Revolutionären Obleute sind bis heute das einzige Beispiel in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung geblieben, deren Bewegung sich direkt aus dem Proletariat ohne intellektuelle bürgerliche Führung herausbildete, entfaltete und als proletarische oder Arbeiterorganisation politisch wirksam geworden ist.
Diesem Herkommen aus der Arbeiterschaft und ihrer Einbindung in die Arbeiterschaft ist es zuzuschreiben, dass die Obleutebewegung als reine Arbeiterbewegung sich zunächst auf die Kampfmethoden beschränkte, die sie kannte und erprobt hatte: Streiks, Demonstrationen und Massenstreiks.” Aber als sie erkannten, dass mit Massenstreiks alleine kein Kriegsende erzwungen werden kann, weil dieses den Sturz des kaiserlichen Regimes zur Voraussetzung hat, schreckten sie nicht davor zurück die Revolution als Minimalziel anzuerkennen und an deren Realisierung mitzuwirken.
Richard Müller war bis 1920, als er sich mit dem linken Flügel innerhalb der USPD der KPD anschloss, Mitglied der USPD. In derselben USPD war Eduard Bernstein (7) bis März 1919 ebenfalls Mitglied. Danach kehrte  dieser, nachdem er bereits im Dezember 1918 wieder der MSPD  beigetreten war und eine Doppelmitgliedschaft hatte, der USPD endgültig den Rücken. Bernstein war ein Gegner des Rätegedankens und er vertrat die Notwendigkeit die deutsche Novemberrevolution in ein bürgerliches Fahrwasser überzuleiten. Bernstein schrieb ebenfalls ein Buch über “die deutsche Revolution von 1918/19” .(8) Es ist 1921 erschienen und wurde 1998 nach mehr als einen dreiviertel Jahrhundert  als kommentierte Neuausgabe wieder vorgelegt. Als Bernstein in diesem Buch den ersten Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands (16.12.1918 – 21.12.1918) in Berlin beschreibt, verliert er einige Worte über die Person des Richard Müller: “Müller, der lange Jahre Führer der Opposition in der Ortsgruppe Berlin des Deutschen Metallarbeiter-Verbands gegen dessen Leitung gewesen war, entwickelte in der Revolution einen Zug zum Fanatiker. In einer Sitzung des Vollzugsrates (der am 10.November vom Groß-Berliner Arbeiter- und Soldaten-Räte gewählt worden war, Anm. des Verf.) hatte er ausgerufen, nur über seine Leiche gehe der Weg zur Nationalversammlung, was ihm bei seinen Widersachern den Spottnamen Leichenmüller eintrug. Sein Referat, das er mit den Worten einleitete, es sei ihm unmöglich, den Bericht objektiv zu geben, war eine leidenschaftliche Anklage gegen den Rat der Beauftragten .(9) Er beschuldigte diesen, dem Bestreben des Vollzugsrates, die Errungenschaften der Revolution sicherzustellen und in die Praxis zu überführen, bei jeder Gelegenheit Widerstand entgegengesetzt zu haben, und klagte ihn an, dass er nichts getan habe, das reaktionäre Element in den Reichs- usw. Ämtern durch auf dem Boden des Neuen stehende Personen zu ersetzen. Ebenso stehe es mit der Heeresleitung und Heeresverwaltung. Die zurückgekehrten Frontsoldaten habe man nicht auf die sozialistische Republik, sondern nur auf die Republik schlechthin, nicht auf den Vollzugsrat, der doch die Souveränität des Volks durch die Arbeiter- und Soldatenräte darstelle, sondern auf den Rat der Volksbeauftragten vereidigt.” (10)
Im Deutschland der Novemberrevolution wurde der Konflikt zwischen dem Lager der proletarischen Machtübernahme in Form der Rätedemokratie und dem Lager der bürgerlichen Konterrevolution, die sich rund um die Losung nach der  Nationalversammlung scharte, zur alles entscheidenden Frage. Richard Müller war einer der vehementesten Vertreter des Rätegedankens. Für Eduard Bernstein, den Anhänger der schnellstmöglichen Wahl zur Nationalversammlung, daher ein Fanatiker. Doch er war alles andere als ein Fanatiker, sondern er konnte – aufrund seiner sozialen und politischen Stellung – wahrnehmen, wie der Inhalt und die Form des proletarischen Massenkampfes in Folge der Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Weltkriege sich verändern sollten. Und er wurde zum Sprachroht dieser Entwicklung! In dem 1921 erschienen Sammelband “Die Befreiung der Menschheit – Freiheitsideen in Vergangenheit und Gegenwart” beschreibt Richard Müller das Werden des Rätegedankens in Deutschland:
“Als sich im November 1918 in Deutschland die neue proletarische Kampforganisation in den Arbeiterräten bildete, da bezeichnete man diese als die Nachahmung “bolschewistischer Methoden”. Diese neuen Kampforganisationen bildeten sich aber nicht erst als Folgewirkung der Novemberereignisse, sondern wurden bereits früher, während des Krieges, geschaffen, als der Novemberzusammenbruch noch nicht bevorstand. Sie ergaben sich aus den ökonomischen Auswirkungen des Krieges, aus der Unterdrückung jeder freien Regung der Arbeiterschaft durch die Handhabung des Belagerungszustandes und aus dem vollständigen Versagen der Gewerkschaften wie auch der politischen Parteien. Die Gewerkschaften waren in ihrer Tätigkeit gehemmt durch den Belagerungszustand und wurden außerdem von der Gewerkschaftsbürokratie der Kriegspolitik dienstbar gemacht. Die politische Partei der Arbeiterklasse war gespalten. Während ein Teil sich rückhaltlos für die Kriegspolitik der Regierung einsetzte, war der andere Teil zu schwach, um einen Widerstand zu leisten. Der politisch gereifte und revolutionär gesinnte Teil der Arbeiterschaft suchte nach neuen Formen des proletarischen Klassenkampfes, suchte sich dazu neue Kampforganisationen. Diese Bestrebungen zeigten sich zuerst in den Großbetrieben und fanden hier auch festere Formen.
Als im Juli 1916 ganz plötzlich 55.000 Berliner Arbeiter in den Streik traten, nicht um ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern, sondern aus politischen Gründen, da konnte die bürgerliche Gesellschaft, aber noch mehr die Führer der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften diese unerhörte Tatsache gar nicht begreifen. Diese Tatsache stellte alle bisher in der Arbeiterbewegung gemachten Erfahrungen einfach auf den Kopf. Wo lagen die Ursachen? Wer hatte diesen Streik vorbereitet und geleitet? (...) Es waren Arbeiter, die sich zu “Fabrikkomitees” zusammengeschlossen hatten, die wirkten, wie die Fabrikkomitees der Petersburger Großbetriebe im Jahre 1905, ohne deren Tätigkeit gekannt zu haben. (...) Diese “Fabrikkomitees” – die Bezeichnung ist nicht ganz zutreffend – kann man als die Vorboten der heutigen revolutionären Arbeiterräte in Deutschland bezeichnen. Der Rätegedanken schlug damals, aus den Verhältnissen geboren, in Deutschalnd seine ersten Wurzeln.” (11)
Richard Louis Müller, gelernter Dreher, der sich die politischen und historischen Kenntnisse als Auoditakt selbst aneignen mußte, spielte in der Novemberrevolution eine zentrale Rolle. Er war als Leiter der “Revolutionären Obleute” wesentlich an der Vorbreitung des 9.November beteiligt. In der darauf folgenden Revolutionsregierung war er Vorsitzender des “Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte.  Schon alleine aufgrund dieser Umstände ist Richard Müllers “Geschichte der Novemberrevolution” eines der beeindruckensten  Bücher, welches zu diesem Thema geschrieben worden ist.
Richard Müller und mit ihm die “Revolutionären Obleute” haben am klarsten die Stimmung in den Betrieben, die Wünsche und Sorgen der ArbeiterInnenklasse ausgedrückt. Es ist von daher auch nicht verwunderlich, dass Müllers Einfluss in Berlin bei weitem den von Karl Liebknecht übertraf, dem er immer wieder auch “Revolutionäre Gymnastik” vorwarf. Richard Müller ist von den Berliner ArbeiterInnen als Sprecher ihrer revolutionären Sehnsüchte und ihres revolutionären Wollens ausgewählt worden. Und als diese erloschen waren, mußte auch Richard Müller wieder in die Niederungen des Alltags hinabsteigen und wurde zu einem Bürger, der als Hausbesitzer auf zweifelhafte Art und Weise seine Existenz sicherte.  Diese Mischung in der Person des Richard Müllers – und wir können ähnlich Entwicklungen auch in so manchen Arbeitskämpfen der Gegenwart beobachten - verleiht dem Buch noch einen besonderen Reiz. Es ist mehr als ein historischer Bericht einer Person, die eine Schlüsselrolle genau in dieser Berichtszeit eingenommen hat. Es gewährt einen tiefer Einblick in die Dynamik des proletarischen Klassenkampfs auch für die Jetztzeit und reizt zur Selbstforschung, um sich unter anderem auch den Schwächen und Fehlern eines Richard Müllers in der Revolution annähern zu können.

Wien, am 1.August 2012
Peter Haumer

 

(1)Der Malik-Verlag ist einer der bedeutendsten deutschen Verlage des 20. Jahrhunderts. Er existierte von 1916 bis 1947 und war auf politische und ästhetische Avantgardekunst sowie kommunistische Literatur ausgerichtet.

(2)Ralf Hoffrogge verfasste 2008 eine sehr interessante Biografie über “Richard Müller – der Mann hinter der Novemberrevolution” im Karl Dietz Verlag.

(3) “Deutsche Kommunisten – Biographisches Handbuch 1918 – 1945” von Hermann Weber/Andreas Herbst, Karl Dietz Verlag 2004

(4) Es ist dies auf Seite 375 in der Biografie des Karl Klein (1886-1960)

(5)Die im April 1917 gegründete USPD (Unabhängige sozialdemokratische Partei Deutschlands) knüpfte programmatisch und personell in erster Linie an die ehemalige zentristische Mehrheitsströmung der SPD an, die sich durch die neue Partei organisatorisch verselbständigte. Von 1917 bis 1920 war die USPD Massenpartei und löste in Zentren der Sozialdemokratie wie Berlin und Leipzig die SPD als Mehrheitspartei der ArbeiterInnenbewegung ab. Die vordergründige Ursache für die Gründung der USPD war die Revision zentraler Beschlüsse der Vorkriegs-SPD durch Parteivorstand und Reichstagsfraktion, die im August 1914 begonnen hatte ( Burgfriedenspolitik).

(6)“Die Betriebsräte in der Weimarer Republik”, herausgegeben von R.Crusius, G.Schiefelbein, M.Wilke, 1978 Verlag Olle und Wolter, Seite 14/15

(7)Eduard Bernstein ( 6. Januar 1850 - 18. Dezember 1932) war ein sozialdemokratischer Theoretiker und Politiker in der SPD und zeitweilig der USPD. Er gilt als Begründer des theoretischen Revisionismus innerhalb der SPD.

(8) Eduard Bernstein: Die deutsche Revolution von 1918/19, 1998, Verlag J.H.W.Dietz Nachf.

(9)Der Rat wurde am 10. November 1918 von MSPD und USPD gebildet und bestand zunächst aus drei gemäßigten Mehrheitssozialdemokraten und drei radikaleren Unabhängigen Sozialdemokraten. Letztere traten am 29. Dezember zurück, und zwei weitere Mehrheitssozialdemokraten kamen hinzu.

(10) Eduard Bernstein....a.a.O., Seite 129

(11) “Die Befreiung der Menschheit – Freiheitsideen in Vergangenheit und Gegenwart”, Berlin 1921. Ebenda: Richard Müller - Das Rätesystem in Deutschland, Seite 168/169

 

Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2013/I

Interessant für alle, die sich an der aktuellen Debatte über historische Alternativen beteiligen wollen

Vor fast neun Jahrzehnten schrieb Richard Müller, führender Kopf der Revolutionären Obleute im Deutschen Metallarbeiter-Verband, deren Sprecher auf dem linken Flügel der USPD, Vorsitzender des Vollzugsrates der Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte 1918/19 und 1922 als kommunistischer Gewerkschaftsfunktionär aus der KPD ausgeschlossen, jene drei Bücher, die nun, erstmalig in einem Band vereinigt, nachgedruckt vorliegen. Für die Neuausgabe wurden Müllers Bände neu gesetzt und ihre Seitenzahlen fortgeschrieben, was für Vergleiche und Zitierungen beachtet werden muss.

Richard Müller verhehlte zwar nicht seine Zeitzeugenschaft als Führungsgestalt in der deutschen Revolution, aber er schrieb keine Memoiren, sondern gestützt auf die von ihm gesammelten Dokumente der Rätebewegung eine kompakte, gründlich dokumentierte Geschichte der Revolution von 1918/19 einschließlich ihrer Vorgeschichte, die er 1924/25 im Malik-Verlag bzw. in dem von ihm mitbegründeten Phöbus-Verlag publizierte. Müller schrieb mit dem Anspruch, „einen Beitrag zur Selbstreflektion der revolutionären Bewegung“ zu leisten, „die er noch nicht als abgeschlossen betrachtete“ (Einleitung der Hrsg., S. 17).
Unter der Überschrift „Ein revolutionäres Vermächtnis – Richard Müller und seine Geschichte der Novemberrevolution“ stellt Ralf Hoffrogge dem Nachdruck des Müllerschen Werkes eine Einleitung voran (S. 11-25), in der er die  Biographie Müllers skizziert und die Wirkungsgeschichte seiner Schriften erörtert. Hoffrogge hebt zu recht hervor, dass Müllers Revolutionsgeschichte zwar bei Historikern über die Jahrzehnte gut bekannt blieb und – meist als Fakten-Steinbruch – genutzt wurde, dass sie aber in den Strömungen der Arbeiterbewegung verdrängt worden ist. Der nachrevolutionären und staatserhaltenden Sozialdemokratie musste der bekennende Revolutionär als linker Extremist erscheinen. In das Bild der parteikommunistischen Historiographie, die allein auf eine von Spartakus begründete Traditionslinie setzte, passte der zudem aus der KPD ausgeschlossene Revolutionshistoriker ebenso wenig.

Die mehr oder weniger direkte Rezeption der Revolutionsdarstellung Müllers durch Arthur Rosenberg und Ossip K. Flechtheim, auch deren Weiterwirkung in Arbeiten von Fritz Opel, von Eberhard Kolb und insbesondere von Peter von Oertzen kennzeichnet Hoffrogge zutreffend als „Minderheitenstrang in der westdeutschen Geschichtswissenschaft“ (S. 23). Die Mehrheits-strömung habe in der Interpretation der Revolution 1918/19 an dem „konstruierten Gegen-satzpaar Demokratie-Kommunismus“ (S. 22) festgehalten und nur bürgerliche und sozialdemokratische Stimmen zur Kenntnis genommen. Desinteresse an historischen Alternativen und an den Kämpfen um den sozialen Charakter der Weimarer Republik bestimmte auch den Inhalt der Schulbücher und die Erinnerungskultur. Im Gegensatz zum Mainstream der akademischen Historiographie interessierten sich Gewerkschaften und die Studentenbewegung der 60-er Jahre sehr wohl für Müllers Arbeiten über eine Rätedemokratie, die sie der rückständigen und dringend reformbedürftigen Gesetzgebung der Bundesrepublik auf dem Gebiete der wirtschaftlichen und politischen Mitbestimmung gegenüberstellten. Diese Bewegung rief Ende der 60-er und Anfang der 70-er Jahre eine größere Anzahl von Dokumentationen zur Rätefrage in der Novemberrevolution hervor, in denen auch Positionen Richard Müllers reflektiert wurden. Müllers frühe Trilogie über die Revolution 1918/19 wurde in fotomechanischen „Raubdrucken“ von Hand zu Hand gereicht, bis 1973/74 die bisher letzte Neuauflage in der „Kritischen Bibliothek der Arbeiterbewegung“ erschien.

Die Ausgaben von 1924/25 und 1973/74 sind heute nur noch in wenigen Exemplaren auf dem Antiquariatsmarkt anzutreffen. Seltenheit und Nachfrage trieben deren Preis in extreme Höhen. Der hier anzuzeigende Nachdruck schließt also eine empfindliche Lücke im normal zugänglichen Bestand an marxistischer Literatur über das revolutionäre Geschehen während des Ersten Weltkriegs und der ihm folgenden Revolution in Deutschland. Damit gelingt das Vorhaben der Herausgeber, „Müllers Thesen vom unfreiwilligen Status eines Geheimtipps“ zu lösen und „sie in den allgemein zugänglichen Fundus historischer Kampferfahrungen“ zurück zu bringen (S. 25). Der Satz zielt auf die politische Aktualität der „alten“ Schriften. In der Tat bietet der Band hinreichend Gesprächsstoff für geschichtsbewusste Debatten über die Zusammenhänge zwischen Sozialismus und Demokratie, über Wirtschaftsdemokratie und über das Verhältnis von repräsentativer parlamentarischer und Basisdemokratie. Aber auch die Fachhistoriker sind herausgefordert, die Renaissance des Müllerschen Werkes aufzugreifen, sich nicht nur des in ihm ausgebreiteten reichen Faktenmaterials zu bedienen, das ohnehin indessen noch umfassender und genauer, als es Müller möglich war, dokumentiert und dargestellt wurde, sondern – natürlich nicht unkritisch – den methodo-logischen Ansatz zu prüfen, wenn es um weitere Arbeiten über die deutsche Revolutions-geschichte und ihre bis in Gegenwart und Zukunft fortwirkenden Implikationen geht.

Der Band mit Richard Müllers revolutionsgeschichtlichen Abhandlungen und Dokumentenanhängen gehört nicht nur in den Grundbestand der Bibliotheken, sondern auch in das Handregal des Historikers und aller historisch Interessierten, besonders jener, die sich an der aktuellen Debatte über historische Alternativen beteiligen wollen. Ralf Hoffrogge ist zu beglückwünschen, dass es ihm nach seiner verdienstvollen Richard-Müller-Biographie gelang, die notwendige Unterstützung zu finden, nun auch das Hauptwerk seines Protagonisten wiederzubeleben.

Gerhard Engel


Müllers Biographie sowie die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte seiner drei Bücher sind ausführlicher behandelt von Ralf Hoffrogge: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution (=Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus, Bd. VII), Karl Dietz Verlag, Berlin 2008, S. 171-197.

 

Ver.di News 12.09.2012 - Buchtipp

"Eine spannende lehrreiche Abhandlung"

(GL) Am 9. November 1918, einem regnerischen, grauen Herbsttag, strömen Arbeiter, Angestellte und Soldaten zu Tausenden in das Berliner Stadtzentrum, folgen einem Streikaufruf der "Revolutionären Obleute". Vom Reichstag aus ruft Philipp Scheidemann (SPD) die deutsche Republik aus, vom Schloß aus Karl Liebknecht (USPD) die freie sozialistische Republik. Der Kaiser ist gegangen, die Arbeiter- und Soldatenräte sind gekommen. Die Rechtsextremen tadeln die Akteure als "November-Verbrecher", Linksextreme verklären sie. Auch in der bürgerlichen Geschichtsschreibung gibt es zur November-Revolution Tabus. Eine umfassende, parteiische, aber authentische Beschreibung der Bewegung der Revolutionären Obleute hat Richard Müller in den zwanziger Jahren veröffentlicht. Die jüngst erschienene Neuausgabe holt seine anschauliche Beschreibung einer Basisbewegung in die Gegenwart. Müller hat mit der Burgfrieden-Politik der Gewerkschaften 1914 keinen Frieden gemacht. So geht er mit der damaligen Gewerkschaftsführung kritisch ins Gericht. Insgesamt eine spannende, lehrreiche Abhandlung, auch wegen der vielen Dokumente.

 

Miteinander Zukunft denken - IGM-Zeitschrift für Bildungsreferent/innen März 2013

Warum „den Müller“ lesen?

„Vertrauensleute galten schon im­mer als ‚Aufwiegler‘!“ – so erinnert die „Kleine Arbeitshilfe“ an die „Vertrauensleutearbeit gestern – heute – morgen“. Und es gab sie wirklich, die „Revolutionären Obleute“ der Berliner Metallbetriebe, die während des Ersten Weltkrieges gegen Kaiser und Krieg und für die Revolution kämpften. Als gewerkschaftlicher Zusammenschluss waren die Revolutionären Obleute damals die schlagkräftigste Antikriegsorganisation, bereits im Januar 1918 fähig zu mehrtägigem „Streiken gegen den Krieg“ (dokumentiert im gleichnamigen Band von Chaja Boebel und Lothar Wentzel im VSA-Verlag).  Mit dieser „Generalprobe“ wurden sie, selbstständig und parteiunabhängig, in Berlin die organisierende und tragende Kraft für den Umsturz zur Republik im November 1918. Wer war nun Richard Müller? Die Revolutionären Obleute waren Ergebnis seines Organisationstalents. Zwischen 1916 und 1921 zählte er zu den einflussreichsten Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaft war für ihn Heimat, Freundeskreis, politische Identität. Im Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV), seinerzeit größte Gewerkschaft der Welt, galt er als der Anführer des linken Flügels. Als gewählter Vorsitzender des Berliner Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte stritt er für eine wirtschaftliche Demokratie auf Basis von Betriebsräten, in der die Arbeitenden selbst über Produktion und Politik entscheiden würden. Nach der Revolution wurde Müller zum Historiker und wies in seiner Geschichte der Novemberrevolution akribisch nach, dass es damals keinen Bürgerkrieg von links gab, sondern dass vielmehr die politische Rechte seit 1919 immer wieder gezielt zu politischer Gewalt gegen die Arbeiterbewegung und die von ihr erkämpfte Republik griff – erst 1933 war sie endgültig erfolgreich. Aus der Geschichte lernen? Müller macht es möglich, erzählt keine Anekdoten, sondern unterbreitet Einschätzungen und Dokumente, die es erlauben, sich ein eigenes Bild von den Vorgängen zu machen. Das liest sich spannend wie ein Kriminalroman.

Rainer Knirsch

 

"Senioren-Echo" der IG Metall-Senioren Hamburg Nr. 23 - Dezember 2013

Vor 95 Jahren: Die Novemberrevolution

Innerhalb nur weniger Tage, beginnend mit dem Matrosenaufstand in Kiel am 3. November 1918, war das Kaiserreich hinweggefegt worden.

Am 9. November 1918, um 14 Uhr, rief Philipp Scheidemann am Reichstagsgebäude die Republik aus. Wenige Stunden später wurde von Karl Liebknecht vom Balkon des Berliner Schlosses die Sozialistische Republik ausgerufen. Neben diesen bei den Protagonisten wird die Revolution häufig noch mit Friedrich Ebert und Rosa Luxemburg in Verbindung gebracht.

Nur ein Name taucht selten oder gar nicht auf, der von Richard Müller. Und dies völlig zu Unrecht. Richard Müller war bereits vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs als Branchenleiter der Dreher im Großraum Berlin in der Berliner Ortsverwaltung des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV), dem Vorläufer der IG Metall. Bereits im Januar 1918 organisierte er als führender Kopf der „Revolutionären Obleute“ Massenstreiks gegen den Krieg, an denen sich mit Schwerpunkt Berlin deutschlandweit zirka eine Million Menschen beteiligten. Ein Großteil der deutschen Rüstungsproduktion kam für Tage zum Erliegen. Den „Revolutionären Obleuten“ waren die Beseitigung von Krieg, Hunger und Elend wichtiger als die momentane Sicherheit ihrer Arbeitsplätze. Sie gingen dabei ein großes Risiko ein. Denn bei Aufdeckung ihrer Rädelsführerschaft drohte ihnen im besten Fall die Schutzhaft und im schlechtesten Fall das Abkommandieren an die Front zu einem Todeskommando. Bereits vor der Ausrufung der Republik hatten in den frühen Morgenstunden des 9. November 1918 die „Revolutionären Obleute“ und die Spartakusgruppe Flugblätter mit Revolutionsaufrufen verteilt. Zwischen 8 und 10 Uhr begann der allgemein befolgte Generalstreik. Ohne die in den Betrieben verankerten „Revolutionären Obleute“ wäre dies nicht möglich gewesen. Es formierten sich am Vormittag aus den Großbetrieben riesige Demonstrationszüge in Berlin, die zu den Kasernen zogen und sich mit den Soldaten verbrüderten. Gegen Mittag unterstützte die SPD-Führung den Generalstreik, den sie noch am Morgen zu verhindern versucht hatte. Die Ausrufung der Republik war also nicht die fixe Idee einzelner, sondern war aufgrund des Drucks einer Massenbewegung zustande gekommen.

Am 10. November wurde Richard Müller zum Vorsitzenden des Berliner Vollzugsrats der Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte gewählt. In der Anfangszeit der Revolution wirkte er als Organisator und Theoretiker der Rätebewegung. In der Folgezeit konnte sich jedoch der Vollzugsrat nicht gegen den einflussreicheren „Rat der Volksbeauftragten“, der mehrheitlich durch die SPD dominiert war, durchsetzen. Nach der Generalversammlung des DMV im Oktober 1919 wurde Richard Müller für zirka ein Jahr leitender Redakteur der „Metallarbeiterzeitung“, dem Vorläufer unserer Metall-Zeitung.

Als Bericht eines Zeitzeugen erschien in den Jahren 1924 bis 1925 in drei Bänden von Richard Müller unter dem Titel „Vom Kaiserreich zur Republik“ eine Darstel­lung der Novemberrevolution. In den 1970er Jahren wurde diese Ausgabe von dem Verlag Olle & Wolter als Nachdruck neu aufgelegt, sie ist jedoch seit längerer Zeit vergriffen. Dem kleinen Verlag „Die Buchmacherei“ in Berlin ist zu danken, dass die drei Bände in einem Buch unter dem Titel „Eine Geschichte der November Revolution“ neu erschienen sind. Für das Lektorat zeichnet Rainer Knirsch, IG Metaller und inzwischen Rentner, verantwortlich. Rainer Knirsch war Betriebsrat und Betriebsratsvorsitzender bei BMW Berlin. Die Geschäftsleitung hatte ihn mit etlichen Kündigungen überzogen, um einen aktiven Gewerkschafter loszuwerden. Mit Hilfe der IG Metall hatte er sämtliche Verfahren gewonnen. Im letzten Sommer hatte ich Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Für ihn beschreibt Richard Müller die Novemberrevolution 1918 spannend wie ein Krimi.   

Rolf-Rüdiger Beyer

 

 
 

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